„Exklusion macht keinen Sinn“
Barrieren für autistische Kinder in Schulen erkennen und abbauen – ein Interview mit den Forschenden des Projekts „schAUT – Diagnose von Barrieren für autistische Schüler*innen in inklusiven Schulen“
Barrieren für autistische Kinder in Schulen erkennen und abbauen – ein Interview mit den Forschenden des Projekts „schAUT – Diagnose von Barrieren für autistische Schüler*innen in inklusiven Schulen“
Laute Kinderstimmen, helles Deckenlicht, häufige Raumwechsel – autistische Kinder leiden in der Schule häufig unter Reizen, die Nicht-AutistInnen gar nicht aktiv wahrnehmen. Aktuelle Erkenntnisse der Autismusforschung zeigen, dass der Bildungserfolg und die gesellschaftliche Teilhabe betroffener Schülerinnen und Schüler wesentlich davon abhängen, ob es gelingt individuell relevante Barrieren abzubauen.
Die Perspektive betroffener SchülerInnen ist bisher aber kaum wissenschaftlich erforscht. Deshalb möchte das Projekt „schAUT“ dabei helfen, Barrieren zu identifizieren und nachhaltig abzubauen - mithilfe eines eigens dafür entwickelten Diagnosetools. Die Forschenden möchten herausfinden, was Schulkinder beim Lernen und im Schulalltag möglicherweise so belastet oder überfordert, dass sie die Schule nicht gerne besuchen und folglich nicht so erfolgreich wie möglich abschließen können. Diese Erkenntnisse sollen nicht nur autistischen Kindern helfen, denn von weniger Barrieren profitieren alle Kinder.
PT: Ich habe gerade schon kurz angerissen, worum es in schAUT geht. In welchen Schritten gehen Sie im Projekt vor, um Ihr Diagnosetool zu entwickeln?
Vera Moser: Wir haben mit den Vorarbeiten von White Unicorn schon einen gewissen Überblick gehabt, welche Barrieren autistische Menschen an der Teilhabe in der Gesellschaft hindern können und haben diese dann für Schulkinder adaptiert. Wir untersuchen Kinder im ersten Schuljahr und dann zu Beginn der Sekundarstufe 1, und zwar alle Kinder eines Jahrgangs an ausgewählten Schulen, die im Projekt beteiligt sind. Zusätzlich haben wir ein Diagnosetool aus den Vorarbeiten des White Unicorn e. V. entwickelt, das wir in diesen Altersklassen einsetzen, um dann altersspezifisch und schulbezogen zu untersuchen, welche Barrieren Kinder an diesen Schulen besonders häufig benennen. Wir unterscheiden dabei nicht, was ausgewiesene autistische Schüler sind und was nicht, weil wir nicht in einer zwei Welten-Logik arbeiten wollen. Außerdem haben wir ja Barrieren, die viele Menschen in unterschiedlicher Weise belasten – mit oder ohne Autismus-Diagnose. Auf Grundlage dieser ersten Erhebungswelle sind wir dann in die Schulen gegangen und haben dort einzelschulspezifisch zurückgemeldet, welche Barrieren wir bei Ihnen identifizieren konnten. Dann findet ein Workshop statt, der zeigt, welche Barrieren wie bearbeitet können, was auch die Grundlage für diesen Workshop ist, der dann mit Mitarbeitenden aus dem Forschungsteam und Lehrkräften gemeinsam gestaltet wird.
PT: Haben Sie da ein Beispiel?
Moser: Man erlebt immer sehr viel durcheinander in Schulen, zum Beispiel wenn Pausen beginnen oder Klassen gewechselt werden. Dies könnte man reduzieren und zum Beispiel separate Räume schaffen, in die Kinder sich zurückziehen können. Ruheräume oder auch versetzte Pausenanfänge, um nicht so ein Gedränge zu haben. Also wir erwarten gar keine Raketenwissenschaft, sondern nur was im Rahmen dieser Schule möglich ist. Dann testen wir nach einem Jahr noch mal die Kinder, um zu sehen, hat das eigentlich gewirkt? Und am Ende machen wir noch weitere Fortbildungsworkshops, aber das können wir vielleicht später noch erzählen.
PT: Frau Fuhrmann, Sie haben bereits 1600 Schülerinnen und Schüler aus den Eingangsklassen an Grundschulen und weiterführenden Schulen in verschiedenen Bundesländern befragt und die Fragebögen gemeinsam mit der autistischen Community entwickelt. Können Sie uns ein paar Beispiele geben, was mögliche Barrieren sein können?
Stephanie Fuhrmann: Ja, die Barrieren haben wir durch Umfragen aus der Community gesammelt. Es waren sehr viele Beispiele und wir haben dann pro Barriere, zum Beispiel Lautstärke, die vier wichtigsten Hauptbarrieren benannt. Das wären in diesem Fall die Schulklingel, die sehr laut ist. Wenn es in der Klasse still ist, sind die anderen Mitschüler laut hörbar oder bei der Stillarbeit fällt etwas laut scheppernd herunter oder Blätter rascheln. Wir haben die Beispiele genommen, die am häufigsten benannt wurden, von Autisten aus der Community, haben dann die Kinder in der Schule anhand von zwei Beispielen befragt, wie intensiv sie diese Barriere erleben, sodass wir dann von den Schülern erfahren konnten, wie schlimm sie es finden, dass die Schulklingel sehr laut ist.
PT: Das sind ja durchaus auch Punkte, die auch andere Kinder stören könnten. Ich finde das verdeutlicht auch noch mal, warum es Sinn macht nicht in diesen Schubladen zu arbeiten, sondern alle Kinder anzuschauen. Herr Benecke, ich möchte noch mal auf das Projektsetting zurückkommen. Bei „schAUT“ arbeiten Forschende aus der Sonderpädagogik und den Sozial- und Bildungswissenschaften auf Augenhöhe mit der Community der Autistinnen und Autisten zusammen. Was ist daran aus Ihrer Sicht so besonders?
Mark Benecke: Dass wir sehr viele Leute erreichen können, die nicht diagnostiziert sind. Es ist eigentlich so: Direkt vom Forschungsansatz her wird es nicht aufgeteilt, dass man bereits bestehende Diagnosen übernimmt und dann eine Grundannahme einführt, die überhaupt nicht geprüft ist. Ich persönlich habe auch mit hochempfindlichen Gruppen zu tun, mit Hoch- und Höchstbegabten, da sind auch manchmal Autistinnen und Autisten dabei, die gar nicht so auffallen. Ich muss übrigens sagen, dass es sogar sein könnte, dass die angeblich „normalen“ Schülerinnen und Schüler vielleicht gar nicht so „normal“ sind, nur bereits sehr stark maskieren und dadurch nicht auffallen.
PT: Frau Fuhrmann, können Sie in dem Kontext auch noch mal sagen, was der White Unicorn e. V. genau macht und wen er repräsentiert?
Fuhrmann: Der White Unicorn e. V. ist ein Verein zur Entwicklung eines autistenfreundlichen Umfeldes. Das bedeutet, wir suchen die Barrieren in verschiedenen Lebensbereichen heraus. Wir arbeiten hier vor allem wissenschaftlich im Bereich der Soziologie der Umfragen. Zum Beispiel im Sportbereich versuchen wir herauszufinden, was stört die Kinder im Sportunterricht, sowie bei sportlichen Aktivitäten allgemein. Wir gehen in Kooperationen mit verschiedenen Partnern, die sich wissenschaftliche Daten wünschen. Zum Beispiel um herauszufinden, wo Barrieren im Arbeitsleben sind oder bei Veranstaltungen, in Museen. So können wir am Ende sagen, wir bilden alle Sozialräume der Gesellschaft ab und können hier qualitativ hochwertiges Material, das einem gewissen Wissenschaftsanspruch auch standhält, in der Bevölkerung verbreiten. So können Eltern von Autisten, Autisten selbst, Arbeitgeber von Autisten die Literatur nutzen, die wir in einfacher Sprache verfassen, damit wir nicht im Elfenbeinturm festhängen und niemand weiß worum es geht. Wir übersetzen alles ins Englische und arbeiten mit der internationalen Community zusammen.
PT: Es geht also darum, das Thema in die Gesellschaft zu tragen und darüber zu informieren, was Autismus bedeutet. Dabei aber wegzukommen von diesem Diagnosemodell und den Schubladen. Dies wäre nämlich auch meine nächste Frage, dass im Projekt ja ein neurodiverses Verständnis von Autismus im Fokus steht. Was bedeutet das?
Fuhrmann: Das bedeutet, dass die Neurobiologie oder die neurologische Vielfalt im Vordergrund stehen. Wir gehen davon aus, dass die autistische Art zu sein in Ordnung ist und die Verarbeitung von Informationen sich zwar unterscheidet, aber nicht schlechter ist. Etwas chaotischer wirkt es von außen, weil wir jedes bisschen an Information intensiver aufnehmen und auch anders strukturiert verarbeiten, als es von der Mehrheit gekannt und erwartet wird. Es muss möglich sein, dass die Neuro-Mehrheit, also die, die sich in einer Art und Weise verhalten, wie es normalerweise erwartet wird, sich genauso an einer Schule wohlfühlen kann, wie eben eine Neuro-Minderheit.
Benecke: Es ist wirklich in den allermeisten Fällen so: Wenn man über Autismus spricht, denken die Leute, ich kann Mikadostäbe in die Luft schmeißen und dann wissen die Autistinnen und Autisten genau, wie viele Stäbe das sind. Das ist eigentlich genau so problematisch, weil es überhaupt nicht gehäuft Höchstbegabte bei Autistinnen und Autisten gibt. Das ist ja totaler Unsinn, weil sie allein durch die soziale Behinderung von außen den Zugang zur „Breitenbildung“ nicht finden können und eventuell durch die starken Störungen auch sehr depressiv werden und sich dann auch nicht in den Bereichen, die sie interessieren bilden können. Also nicht nur das negative Stigma, auch das Positive kann genauso stören.
PT: Frau Fuhrmann, Sie haben sich auch kritisch mit der umstrittenen ABA-Therapie auseinandergesetzt. Grundlage dieser sogenannten „angewendeten Verhaltensanalyse“ ist es, autistischen Kindern unerwünschte Verhaltensweise abzutrainieren. Was wird daran konkret kritisiert und warum ist aus Ihrer Sicht ein Abbau von Barrieren der bessere Weg?
Fuhrmann: Ich habe mich aus diesem ABA-Sektor bewusst herausgenommen. Ich habe früher Elternbegleitungen gemacht und auch Familien begleitet, die meinen: „Mein Kind muss in die Psychiatrie, mein Kind braucht Sprachtherapie und Ergotherapie und Physiotherapie und ABA“, die hatten da sozusagen ein Gesamtpaket für ihre Kinder. Mir persönlich ist dabei aufgefallen, dass die Kinder schon sehr früh selbstverletzendes Verhalten zeigen. Sie schlagen zum Beispiel selbst mit dem Schädel gegen die Wand, weil diese ganze Konditionierung den großen Nachteil hat, dass man autistisches Verhalten vielleicht nicht mehr zeigt. Man schwankt nicht mehr mit dem Körper hin und her, man wuselt nicht mehr mit den Händen, man bildet nicht ständig den Hyperfokus, weil man sich nur auf eine Sache konzentriert – was Verhaltensweisen sind, die nicht erwünscht sind – und das bekommt man abdressiert. Allerdings kommt man dann mit dem Leben nicht mehr klar. Deshalb habe ich mich von diesem ABA komplett abgewandt und kann dazu eigentlich nur sagen, dass ich es gruselig finde und weiß, dass Erwachsene Autisten im Rahmen von ABA sehr häufig von Folter sprechen.
Moser: Ich kann vielleicht noch ergänzen, ich bin keine ABA-Expertin, aber überhaupt die Idee verhaltenstherapeutisch Probleme zu behandeln, die unter das Spektrum Behinderung fallen, ist ein Ansatz, der in ganz vielen anderen Feldern ganz kritisch zurückgewiesen worden ist. Vor allem vor dem Hintergrund „Ich werde als nicht passend adressiert“. Ein kleines Kind, was erlebt, mit mir stimmt was nicht und mit mir muss man ständig irgendwas machen, ich kann gar nicht sein wie ich bin. Das wirkt natürlich auch auf das Selbstbewusstsein und die Wahrnehmung von Menschen, die offensichtlich nicht dem Normalitätsschema entsprechen und stützt auch so ein Stückchen das Bild von zwei Welten. Da sind die einen, die sind normal und die anderen, die passen nicht und das versucht ja genau das Inklusionsthema umzudrehen. Wir machen nicht die Menschen, sondern das System passend.
PT: Tragen diese Erfahrungen denn auch dazu bei, dass Sie zu einer Systemänderung beitragen wollen? Sie schreiben, dass Sie mit Ihrem Projekt einen Beitrag zu einer Systemveränderung leisten wollen – hin zu mehr Akzeptanz und größerer Anpassungsfähigkeit, kurz: zu barriereärmeren Schulen.
Moser: Ja genau, das ist der Ansatz. Also Inklusion im Sinne dieser four A‘s: Das System muss sich verändern, es muss adaptiv sein, es muss akzeptabel sein für diejenigen, die es nutzen. Es muss auch zur Verfügung stehen, wohnortnah. Das sind alles Prinzipien, die mit der UN-Behindertenrechtskonvention verbunden sind und da wir in einer globalen Welt zunehmende Diversität verstärkt wahrnehmen ist klar, dass wir nicht auf einzelne Personen ganze Systeme ausrichten können, sondern die Systeme so fluffig machen müssen, damit alle die dort wohnortnah geschult werden – ich rede jetzt hier von Schulen – sich dort wohlfühlen und optimal entwickeln können.
Benecke: Ich wollte noch mal ein harmloses Beispiel dazu geben. In der Autismus-Bibliothek in London ist es einfach so, dass man vor einem Besuch umfangreiche Informationen darüber bekommt, wie viele Bilder im Treppenhaus hängen und manchmal Bilder auch umgehängt werden, zum Beispiel weil eins kaputt gegangen ist oder aus saisonalen Gründen und so weiter. Die Erfahrung ist, dass dann alles gut ist. Solange die Autistinnen und Autisten die dahingehen wissen, dass die Bilder sich ändern können, ist das überhaupt kein Problem. Autistinnen und Autisten sind auch adaptiv, sie wollen einfach nur wissen was los ist.
PT: Das sind ja jetzt alles Sachen, die wirklich leicht umsetzbar sind. Wo man jetzt nicht denken würde, oh das ist ein riesiger Aufwand und das kostet total viel.
Fuhrmann: Wobei ich die Umsetzung hier mit Vorsicht betrachten würde, da es natürlich nicht funktioniert, wenn die Klassenstärke weiter 30 Kinder beträgt und man sämtliche Räume, wie Ruheräume, Kreativräume, Bewegungsräume in Schulen einfach nur streicht und denkt, das ist jetzt Inklusion. Wir packen mehr Kinder auf weniger Platz und setzen einen Sonderpädagogen dazu. Es braucht natürlich schon zusätzliche Gebäude für zusätzliche Räume, um die Klassenstärke geringer zu gestalten. 20 Kinder pro Klasse wären als Standard für ganz Deutschland notwendig, um Inklusion überhaupt gerecht werden zu können. Man muss räumlich einiges anders machen.
PT: Sie haben ja alle zahlreiche Erfahrungen gemacht, können Sie noch mal sagen, warum Ihnen das Projekt persönlich so wichtig ist?
Fuhrmann: Also ich bin Autistin und mir persönlich ist das Projekt wichtig, weil Autisten in der Gesellschaft einen sehr wertvollen Platz und Beitrag haben. Autisten können viel, sind viel, wissen viel, haben ganz tolle Eigenschaften als Menschen. Jetzt nichts Herausragendes wie Streichhölzer zählen auf einen Blick, sondern ganz normale Basiseigenschaften. Wenn man sich zum Beispiel für Reha-Wissenschaften interessiert, für Forensik oder was auch immer und könnte da seinen Beitrag leisten, ist aber wegen Kleinigkeiten wie „es gibt kein Homeoffice“ nicht integrationsfähig in eine Firma, das ist natürlich sehr schade. Denn gerade solche Kleinigkeiten wie Homeoffice, können Autisten eben sehr arbeitsfähig machen. Das sind Sachen, die mir so wichtig sind, dass Autisten Bildung erhalten können. Es ist einfach wichtig, dass man einen Schulabschluss hat. Es ist wichtig, dass man einen Arbeitsplatz hat, dass man auch in ein Museum gehen kann. Wenn die Rahmenbedingungen angepasst sind, können Autisten und Nicht-Autisten voneinander profitieren und deshalb ist mir der Verein so wichtig.
Moser: Ja, da kann ich mich gleich anschließen und auch den Auftrag von diesem Projekt noch mal erzählen. Stephanie Fuhrmann kam in mein Büro, damals noch an der Humboldt-Universität, und sagte Folgendes, was ich als bisher größtes Kompliment für meine Forschung empfunden habe: „Frau Moser, Ihre Forschung macht mir keine Angst“. Das fand ich deshalb so bemerkenswert, weil das auch mein Verständnis von Sonderpädagogik ist, mir die Umstände anzuschauen, die das Leben für Menschen mit Beeinträchtigungen/Behinderungen schwer machen und auch historisch zu erklären, wie es überhaupt dazu kommt, dass wir möglicherweise in getrennten Welten leben. Das Wissen über Autismus ist nicht in den Lehrbüchern der Sonderpädagogik zu finden, sondern in der Community. Und was Mark Benecke eben auch erzählt hat, es braucht zum Teil nur so wenig. Aber das wissen Nicht-Autisten überhaupt nicht, insofern ist dieses Expertenwissen so viel wert. Und wenn es zusammenkommt mit WissenschaftlerInnen, die bezahlt werden, wie ich zum Beispiel, dann hat man einen unglaublichen Mehrwert, weil man auf beiden Seiten eine ganz andere Community erreicht. Es würde ja sonst keiner Arbeiten von mir lesen aus der autistischen Community, aber wenn Mark Benecke es postet, dann habe ich gleich 50.000 LeserInnen mehr möglicherweise. Und die UN-Behindertenrechtkonvention basiert auf dem Satz „Nothing about us without us“ und das ist in diesem Projekt so großartig verwirklicht. Für manche KollegInnen von mir ist es auch manchmal ein Schock, wenn Stephanie Fuhrmann sagt: „Bis hierhin und nicht weiter“. Das hat zwar auch schon renommierte Forschungskooperationen verhindert, aber das ist für die Wissenschaftscommunity unglaublich wichtig zu sehen und zu verstehen. Warum sagt eigentlich jemand „Bis hier und nicht weiter“. Und da betreten wir ungeheuer großes Neuland und da muss ich dem BMBF auch noch mal danken, dass es uns diese Möglichkeit gegeben hat. Hier so hochkarätig finanziert eine partizipatorische Forschung in diesem Feld zu initiieren.
PT: Und so soll es ja auch sein – Ihr Projekt ist ein tolles Beispiel für gelingenden Transfer und Forschung, die direkt an den Schulen etwas bewirkt.
Benecke: Ich finde es wirklich super, dass unser Projekt schon mit so jungen Menschen anfängt. Weil einfach jedes Jahr des Selbstzweifelns, des Leidens und der Frage „bin ich richtig“ oder was ist jetzt mit mir los zu viel ist. Aber auch die Verletzungen, die Inneren und die Äußeren. Die lassen sich meiner Auffassung nach mit so einfachen Techniken mildern, dass sie auf ein Niveau kommen, dem ohnehin jeder Mensch ausgesetzt ist. Wir können nicht alle in Watte packen, auch Autistinnen und Autisten nicht, aber es ist doch schön, wenn man sich nicht mehr die ganze Zeit so elend oder seltsam oder fremd fühlen muss, ohne zu wissen warum. Es ist ja eigentlich nicht schlimm, wenn ich weiß warum ich anders bin. Aber wenn ich einfach null Ahnung habe, was dieses alienartige Fremde ist, das ich habe, was ganz viele Autistinnen und Autisten auch beschreiben. Sie denken sie sind auf die Welt gepflanzt worden wie auf einen fremden Planeten. Das sieht man auch in Zeichnungen ganz oft, dass sie sich als Aliens oder Tiere zeichnen, die es gar nicht gibt. Und es ist ja schön, wenn das die Fantasie fördert, besser ist es aber glaube ich, wenn einfach freundlichere und gütigere Lebensbedingungen herrschen und dann auch noch die Gesellschaft was davon hat, weil die Menschen auch was leisten können.
PT: Und deshalb fängt man einfach am besten so früh wie möglich an. In der Grundschule oder noch besser in der Kita, um aufzuklären und Barrieren abzubauen.
Fuhrmann: Der große Vorteil, wenn man früh anfängt ist, dass das autistische Kind dann schon lernt, wie es gut lebt. Mir ist das Gewusel beim Essen mit allen zusammen zu viel, ich möchte mich lieber zurückziehen. Dann kann es gleich eine Lebenskultur entwickeln, die ihm die Möglichkeit gibt, direkt danach konzentriert weiterzuspielen mit den anderen. Weil es eben nicht im Großraum mit den anderen isst, sondern eben zu einer Freundin sagt: „Komm mal mit, wir essen da hinten in der Ecke.“ Und dann weiß es, ok ich esse am besten in der Ecke zu zweit. Und je früher das autistische Kind lernt, wie es gut lebt, desto besser ist es für alle Beteiligten. Wenn man das Kind in so einer Situation zwingt am Esstisch sitzen zu bleiben, schlägt es um sich, wird wenig essen, kann sich nicht konzentrieren, hasst alle Menschen. Es hat überhaupt keine Vorteile. Deshalb finde ich möglichst früh anfangen wichtig.
PT: Das ist ja dann auch eine ganz entscheidende Frage von Lebensqualität bei den Kindern und bei allen Beteiligten.
Fuhrmann: Und Erzieher leiden auch darunter, wenn die Bedingungen so schlecht sind, dass Autisten um sich schlagen, weil sie sich gequält und misshandelt fühlen. Dann hat der Erzieher auch keinen Spaß und die anderen Kinder auch nicht. Exklusion macht keinen Sinn.
PT: Definitiv, das wird ganz klar. Frau Moser: Sie haben das am Anfang schon mal erwähnt und das passt gerade auch ganz gut. Es geht in Ihrem Projekt auch um Fortbildungskonzepte, also wie man Erzieherinnen und Erzieher und auch Lehrerinnen und Lehrer besser schulen kann im Umgang mit Autistinnen und Autisten. Deshalb würde ich da gerne noch mal nachfragen. Was haben die Schulen am Ende konkret in der Hand, wenn ihr Projekt erfolgreich beendet ist?
Moser: Wir machen am Ende tatsächlich Fortbildungen. Wir haben ein Tool, nämlich dieses Barriereabbau-Tool, das ist inzwischen auch eine über 100-seitige Handreichung. Die übrigens nicht nur über Barrieren aufklärt, sondern auch ein neurodiverses Verständnis von Autismus an den Anfang stellt, aber dann auch zeigt: dies und das und das könnt ihr tun. Und deutlich wird auch, es ist auch alltagstauglich. Also das, was wir zeigen ist nicht nur das Diagnosetool, das relativ niedrigschwellig eingesetzt werden kann, um herauszufinden unter welchen Barrieren leiden eigentlich meine Kinder hier. Es ist niedrigschwellig und ebenso das Schulentwicklungstool. Hier haben wir Material, das kostenlos zur Verfügung steht, das jeder nutzen und einsetzen kann. Was sie vorhin schon mal bemerkt hatten, dass viel Forschung in den Schulen nicht ankommt, liegt nicht nur an den Einzelprojekten, sondern auch an der Frage, wie viel Zeit haben Schulen. Der Druck auf Schulen ist immens, aus verschiedenen Gründen, die wir alle kennen, aber auch wie sehr wird Schulentwicklung verlangt und was stellt man sich auch unter den Zielen von Schulentwicklung vor. Das hat jenseits von unserem Projekt Deutschland ein Steuerungsdefizit, weil nicht klar ist wohin wir eigentlich wollen, wenn wir Schulen auffordern inklusive Schulen zu werden. Da fehlt in den meisten Bundesländern – aber auch auf Ebene des Bundes – eine breite Diskussion darüber, was wir gewinnen, wenn wir Inklusion oben auf die politische Agenda setzen. Im Moment sieht es noch so aus, als könnten wir das gerne machen, wenn wir möchten oder wenn wir Zeit haben. Das ist eine Interpretation, die der UN-Behindertenkonvention zuwiderläuft. Es gibt eine Umsetzungsverpflichtung. Und wie das auch zu den anderen Zielen von Schule passt, kann man nicht immer den Einzelschulen überlassen. Selektion und Leistungserzeugung und Inklusion sind zum Teil sehr widersprüchliche Agenden, da braucht es einfach viel mehr Steuerung und Klärung in den Ländern und auf Bundesebene.
Fuhrmann: Da kann unser Projekt einen Beitrag zu leisten.
Moser: Auf jeden Fall. Ich versuche schon seit zehn Jahren die Diskussion anzufeuern, was denn überhaupt Standards für Inklusion sind. Im Moment ist es so, dass jede Schule sagen kann, wir sind übrigens eine inklusive Schule, weil wir uns so genannt haben. Es gibt keine Kriterien, an denen Eltern oder auch die Schüler selber ablesen könnten, was die Bedingungen dafür sind. Sind sie gerechtfertigt oder gibt es überhaupt welche? Und daran krankt für mich vor allem die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.
PT: Das ist die ideale Überleitung zu meiner schon letzten Frage. Wo sehen sie das größte Potenzial und die größte Baustelle beim Thema Inklusion an Schulen?
Fuhrmann: Ich sehe als größtes Potenzial, dass die Schulen wirklich anfangen können ein universelles Design umzusetzen, das allen Schülern zugutekommt. Ich denke, dass die Bildungsqualität deutlich steigt, bei Klassenstärken um die 20 Kinder, bei Ruheräumen, bei Pausenhöfen, die Zonen haben, in denen man entspannt sein kann. Bei Kreativ- und Bewegungsräumen in Schulen als Standardoptionen. Das größte Hindernis sehe ich darin, dass das ganz weit weg von der aktuellen Lebensrealität ist. Wir sind aktuell bei keinem einzigen der genannten Zusatzräume und bei Klassenstärken von bis zu 33 Kindern. Die Schulen wissen gar nicht wohin damit, mit nur einem Sonderpädagogen, der dann überfordert alles machen soll. Somit sehe ich als Problem die Forderung an die Schulen, dass sie inklusiv sein müssen und das Kind ja in die Schule muss und andererseits in Deutschland ja keine Bildungspflicht, sondern Schulpflicht herrscht, das heißt das autistische Kind kann da auch nicht raus und mal zu Hause lernen. Weshalb wir zum Beispiel auch Fernschulkurse empfehlen. Wenn die Schule im Sozialraum keine Möglichkeit bietet, soll das Kind zu Hause wenigstens im Sinne vom SBG 9 Teilhabe erfahren, über einen Teilhabeassistenten und Fernunterrichtsmaterial, sodass in der Schulanbindung überlegt werden kann: Ok, wir bauen vielleicht noch ein Gebäude dazu, da kommen Ruheräume rein. So kann das autistische Kind vielleicht einen Tag in der Woche dahin gehen. Also es muss sozusagen Barriereabbau passieren, damit das Kind überhaupt an die Schule gehen kann und im Moment geht das so gut wie nicht. Viele autistische Kinder sind zuhause, viele Eltern werden vors Familiengericht gezerrt und jeder schiebt die Schuld auf den anderen. Alle sagen die Eltern sind schuld, aber für das Kind heißt es im Erleben „Ich bin schuld, weil ich nicht zur Schule gehe.“ Was den Lernerfolg auch nicht höher macht, das sehe ich als ganz riesiges Problem.
Moser: Die Chancen dieses Projektes sind, zu zeigen: Inklusion ist machbar. Wir haben niedrigschwellig einsetzbare Instrumente, die auch keine hohen Anforderungen an die Umsetzung stellen, im Sinne von „Man muss unglaublich kreativ sein“. Sondern was wir haben, lässt sich auch adaptieren und verändern. Der absolute Gewinn ist, zu zeigen, wie funktioniert partizipatorische Forschung, was ist der Mehrwert. Das größte Problem sehe ich darin, dass unser Land nicht wirklich erkannt hat, dass es eine konkrete Umsetzungspflicht der UN-Behindertenrechtskonvention gibt. Wir haben im Moment nur zwei Bundesländer, die im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention jede Schule als eine inklusive Schule freigeben. Alle anderen 14 Bundesländer haben den alten Haushaltsvorbehalt im Schulgesetz verankert. Das heißt, jede Schule in den 14 anderen Bundesländern – außer Hamburg und Bremen – kann sagen: Inklusion ja, aber bitte nicht bei uns.
Benecke: Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
PT: Dass die Baustelle groß ist, ist auf jeden Fall ganz deutlich geworden, aber auf der anderen Seite auch, dass das wirklich ein tolles Projekt ist, das dem entgegenkommt.
Moser: Ich möchte noch einen Schlusssatz hinzufügen: Wenn Stephanie Fuhrmann das Ganze nicht angefangen hätte, gäbe es dieses Projekt nicht. Ich hatte mit Autismusforschung vorher gar nichts zu tun und alles, was wir jetzt in diesem Projekt entwickeln, ist auf Ihre Initiative zurückzuführen. Und das möchte ich hier noch mal ganz deutlich machen. Danke Stephanie.
Fuhrmann: Danke, das gebe ich gerne zurück!
PT: Man merkt auch, dass Sie sich gesucht und gefunden haben.
Fuhrmann: Ich komme ja aus einer Community, ich könnte das ohne alle anderen gar nicht. Ich werde nur immer vorgeschickt, weil ich keine Probleme habe frei zu sprechen und bei Autisten ist es so, dass sie das nicht so gern machen, nur bei mir ist es genau andersherum.
PT: Das sind gute Schlussworte, die noch mal zeigen, wie wichtig die Community im Projekt ist. Ganz herzlichen Dank für das spannende Gespräch!
Vera Moser ist Professorin für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Inklusionsforschung an der Goethe-Universität Frankfurt.
Stephanie Fuhrmann ist Geschäftsführerin des White Unicorn e. V., dem Verein zur Entwicklung eines autistenfreundlichen Umfelds.
Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke ist Vorstandsmitglied des White Unicorn e. V. und engagiert sich in der Aufklärung über den früher sogenannten „Asperger-Autismus“.
Zusammen arbeiten unsere Gesprächspartner im Projekt schAUT, das zur Förderlinie „Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung“ im Rahmenprogramm empirische Bildungsforschung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gehört.